Cover
Titel
The New Atlantic Order. The Transformation of International Politics 1860–1933


Autor(en)
Cohrs, Patrick O.
Erschienen
Anzahl Seiten
1.130 S.
Preis
£ 39.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthäus Wehowski, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Mehr als 100 Jahre nach dem Ende der Pariser Friedenskonferenz ist die Frage, wie ein „gerechter Frieden“ zustande kommt, so aktuell wie kaum zuvor. Dabei gilt der „Versailler Vertrag“ häufig als Negativbeispiel und wird seit der russischen Invasion der Ukraine immer wieder – sogar durch den französischen Präsidenten Macron – als solches herausgehoben.1 Doch warum gelang es nach 1919 nicht, eine stabile Friedensordnung in Europa zu etablieren? Diese Frage stellt sich Patrick O. Cohrs, Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt auf internationale Beziehungen, in seinem (mit 1.000 Seiten) monumentalen Werk über die atlantische Ordnung zwischen 1860 und 1933. Im Fokus des Buchs steht vor allem die Pariser Friedenskonferenz des Jahres 1919, wobei der Zeitraum davor und danach als Vorspiel beziehungsweise Ausblick dient.

Bereits 2001 (2015 in deutscher Übersetzung) erschien eine umfangreiche Monographie der Historikerin Margareth MacMillan über die Pariser Friedenskonferenz, die vor allem die deterministische Sicht auf die Nachkriegsordnung hinterfragte und diese nicht von ihrem „unvermeidlichen Scheitern“2 her dachte. Rund um den hundertsten Jahrestag der Konferenz erschienen weitere Bücher, die sich mit verschiedenen rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Aspekten der Neuordnung nach 1918 befassten.3 Angelehnt an diese Forschungsliteratur befasst sich Cohrs intensiv mit der transnationalen Ideengeschichte, den Vorstellungen von Weltordnung, Demokratie und dem Mächtegleichgewicht in der Zeit des Hochimperialismus am Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Friedenskonferenz von Versailles. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen die „großen Drei“ Woodrow Wilson (USA), David Lloyd George (Großbritannien) und Georges Clemenceau als zentrale Akteure der Neuordnung von 1919 (S. 40).

Der erste Teil des Buchs geht auf das Scheitern des europäischen Mächtegleichgewichts ein, das im Zuge des Wiener Kongresses von 1815 entstanden war. Als Ursache nennt Cohrs den fundamentalen politischen Wandel in Europa in Folge der Parlamentarisierung und der Entstehung der „Öffentlichkeit“. Dieser machte das Fortbestehen einer Friedensordnung unmöglich, die noch überwiegend von Monarchen ohne Beteiligung der Bevölkerung ausgehandelt worden war. Obwohl Massenmedien, Vereine und Parteien die politische Landschaft grundsätzlich veränderten, führte dies keineswegs zu einer Abmilderung internationaler Spannungen. Zwar etablierten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch internationalistische (sozialdemokratische) und pazifistische Bewegungen, doch die „public opinion“ (S. 79) dominierten nationalistische und expansionistische Gruppen, wie etwa der deutsche Flottenverein. In breiten Teilen der Öffentlichkeit in Deutschland, Frankreich und Großbritannien setzte sich die Vorstellung durch, dass Nationen untereinander einen existenziellen und „zivilisatorisch-darwinistischen“ (S. 85) Kampf führen würden. Paradoxerweise sorgte deswegen jede diplomatische Lösung einer internationalen Krise dafür, dass der öffentliche Druck gegenüber den Regierungen stieg, das nächste Mal nicht „nachzugeben“, sondern härter durchzugreifen. Obwohl sich auch im Deutschen Kaiserreich und der Habsburgermonarchie der Parlamentarismus etablierte, verstanden sich die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich zunehmend als höchste Repräsentanten des zivilisatorischen Fortschritts und der Demokratisierung. Im Weltkrieg setzten die Mittelmächte, allen voran Deutschland, dem ihre Vorstellungen von „Kultur“ und Ordnung entgegen, weshalb Cohrs auch von einem ideologischen „Krieg innerhalb des Krieges“ (S. 189) spricht. Dass die Entente aber ausgerechnet mit dem autoritären Russland verbündet war, sorgte bis zur Februarrevolution 1917 für einen fundamentalen Widerspruch.

Im zweiten Teil des Buchs beschäftigt sich Cohrs ausführlich mit den konkurrierenden Konzepten der Staatenordnung und des Mächtegleichgewichts während des Weltkrieges. In Deutschland dominierte dabei bis kurz vor Kriegsende die Vorstellung eines „Siegfriedens“. Wie etwa der liberale Politiker Gustav Stresemann ausführte, sollte dem Krieg eine politische, ökonomische und kulturelle Dominanz Deutschlands in Zentral- und vor allem Ostmitteleuropa folgen (S. 253). Auf Seite der Entente entstanden währenddessen Konzepte einer neuen demokratischen Staatenordnung und eines durch eine „internationale Liga“ vereinigten internationalen Systems – wobei die führenden demokratischen Staaten darin die Leitrolle übernehmen sollten. Der Einstieg der Vereinigten Staaten in den Krieg machte schließlich Wilsons „14 Punkte“ zur Grundlage einer solchen Nachkriegsordnung. Dabei stand Wilsons Idealismus eines „Friedens ohne Sieger“ einerseits die Realität der komplexen Verhandlungen nach dem Waffenstillstand im November 1918, andererseits die Opposition im eigenen Land nach dem Wahlsieg der Republikaner im Senat und Repräsentantenhaus entgegen.

Frankreich, das den Krieg gegen Deutschland nur unter enormen Opfern und äußerst knapp überstand, sorgte sich auch nach 1919 um seine Sicherheit. Obwohl die deutsche Armee geschlagen war, fürchtete Clemenceau langfristig die ökonomische und vor allem demographische Unterlegenheit Frankreichs gegenüber Deutschland. Die USA und Großbritannien waren unterdessen aus innenpolitischen Gründen gezwungen, sich vom Kontinent zurückzuziehen, wodurch Frankreich (mit dem Ausfall des Bündnispartners Russland) sich sogar in einer noch schwierigeren Position als 1914 wähnte. Es unterstützte daher die Bildung eines „Cordon Sanitaire“ neuer pro-westlicher Staaten in Ostmitteleuropa, der Deutschland vom Osten her in Schach halten sollte. Wie Cohrs ausführt, waren Clemenceau und die französischen Verhandlungsführer keineswegs nur von Rachsucht geleitet oder naiv gegenüber der Gefahr des deutschen Revisionismus (S. 487). Angesichts innenpolitischer Opposition, den Erwartungen einer vom Krieg gezeichneten Bevölkerung und der Unsicherheit über die Zukunft der Allianz mit den USA und Großbritannien setzten die Franzosen auf eine maximale Schwächung Deutschlands bis hin zur Idee eines eigenstaatlichen „Rheinlands“ zwischen Deutschland und Frankreich – was am Widerstand der USA und Großbritanniens scheiterte.

Im dritten Kapitel führt Cohrs aus, wie die „idealistischen“ Ansätze des amerikanischen Präsidenten Wilson während der zähen Verhandlungen zwischen den Siegermächten zerrieben wurden. Anhand eines äußerst umfangreichen Quellenmaterials analysiert der Autor die unterschiedlichen Standpunkte der Verhandlungsführer, aber auch anderer Akteure französischer, britischer und amerikanischer Politik. Deutschlands neue demokratische Regierung stieß dabei überwiegend auf Skepsis und besonders Frankreich schätzte den politischen Umbruch in Berlin als „taktisches Manöver“ (S. 529) ein. Die Strategie des deutschen Außenministers Ulrich von Brockdorff-Rantzau, die Siegermächte mit diplomatischen Noten zu bombardieren und Wilsons Konzepte der „Selbstbestimmung“ gegen ihn anzuwenden, verschlimmerten die Situation gleich doppelt: Beim amerikanischen Präsidenten verstärkte sich die Vorstellung einer oberflächlichen Demokratisierung und eines Fortbestehens des „alten Systems“ (S. 838) in Deutschland. Gegenüber der deutschen Öffentlichkeit weckte Brockdorff-Ranztau unterdessen falsche Erwartungen gegenüber Wilson. Letztendlich kommt Cohrs zum Fazit, dass der Friedensprozess nach dem Ersten Weltkrieg ein „Auswuchs einer Ansammlung komplexer Kompromisse“ (S. 881) zwischen den Siegermächten war. Dabei führte kein geradliniger und unausweichlicher Weg „von Versailles zu Hitler“, doch die Pariser Verträge schufen eine unvollendete und brüchige Ordnung, die eine nachhaltige politische Stabilität in Europa erschwerten. Cohrs führt anhand einer sehr breiten Quellenbasis glaubwürdig aus, warum es unter den gegebenen Umständen und Entwicklungen kaum Alternativen gab. Am schwerwiegendsten für die Instabilität der Nachkriegsordnung war das Scheitern des Völkerbunds. Wilson verstand den Versailler Friedensvertrag nicht als Schlusspunkt, sondern als Beginn einer Friedensordnung. Er hoffte auf künftige Korrekturen durch den Völkerbund, die allerdings nach dem Rückzug der USA vom europäischen Kontinent nur noch unzureichend möglich waren (S. 913).

An Cohrs Werk negativ anzumerken ist dessen enormer Umfang. In einigen Kapiteln wiederholen sich Argumente und auch die Wortwahl, so dass eine Straffung gut möglich gewesen wäre. Zudem berücksichtigt der Autor aktuelle Literatur vor allem mit Blick auf die Staaten der „großen Drei“ und Deutschland, während er bei Polen und Russland überwiegend auf ältere Überblicksdarstellungen verweist. Akteure aus Staaten wie Ungarn, der Tschechoslowakei und sogar Italien erscheinen nur als Randfiguren oder gar nicht. Zudem bleibt das Buch an einigen Stellen äußerst vage: So wird zum Beispiel erwähnt, dass die Siegermächte die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine nicht unterstützten, es bleibt aber unklar, wer das Land überhaupt in Paris vertrat – der erwähnte Simon Petljura (S. 582) war es jedenfalls nicht. Hier wäre zumindest eine Fußnote oder ein Hinweis auf die Sekundärliteratur wichtig gewesen. Dass die außereuropäischen Akteure ebenfalls eher Randfiguren darstellen, liegt an der Forschungsfrage des Buchs, das sich mit der europäischen Neuordnung beschäftigt.

Cohrs Werk liefert insgesamt keine fundamental neuen Erkenntnisse, es vertieft allerdings den vorhandenen Wissensstand aufgrund einer ausführlichen Quellenanalyse. Im Vergleich hierzu berücksichtigt MacMillan in ihrer Studie deutlich mehr Akteure wie zum Beispiel Rumänien, Ungarn oder Österreich, dafür geht sie jedoch weniger in die Tiefe. Leonhards Werk ist wiederum für den Einstieg in die Thematik empfehlenswerter, da es in Struktur und Aufbau zugänglicher ist. Wer sich allerdings detailliert mit der politischen Ideengeschichte der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands in der Zeit vor und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigen möchte, der wird an Cohrs Buch nicht vorbeikommen.

Anmerkungen:
1 Kathrin Müller-Lancé, Macrons heikle Doppelrolle, in: Süddeutsche Zeitung, 13.12.2022, https://www.sueddeutsche.de/politik/frankreich-emmanuel-macron-ukraine-krieg-russland-1.5713760?reduced=true (18.09.2023).
2 Margaret MacMillan, Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte, Berlin 2015, S. 638.
3 Vgl. unter anderem: Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2019; Daniel Brückenhaus, Rezension zu: Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018, in: H-Soz-Kult, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27431 (18.09.2023); Marcus M. Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem ersten Weltkrieg, Berlin 2018; Klaus Richter, Rezension zu: Marcus M. Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2018, in: H-Soz-Kult, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27178 (18.09.2023).